Es gibt für die Schweiz keine systematisch erhobenen Zahlen, wie viele Kinder mit einem Geschwister mit einer Behinderung oder Krankheit aufwachsen. Schätzungen gehen von rund 260‘000 betroffenen Kindern aus. Es handelt sich also nicht um eine seltene Erscheinung.
Die Krankheitoder Behinderung eines Kindes führt bei den betroffenen Familien häufig zu einem Ausnahmezustand und einer enormen Belastung, die kürzer oder auch länger anhalten kann. Die Lebensumstände wandeln sich und damit auch die Bedürfnisseder Familienmitglieder. Die Geschichten sind so unterschiedlich wie ihre Krankheitsbilder und -verläufe. Dennoch gibt es Themen, die alle Familien und vor allem Geschwister gleich betreffen und im Alltag herausfordern.
Förderungpsychischer Gesundheit und Entwicklung von Geschwisterkindern
Geschwisterkinder unterscheiden sich grundsätzlich in den Grundbedürfnissen zu anderen Kindern nicht, dennoch gibt es vieles, was zu ihrer Entlastung beitragen kann:
- Aufmerksamkeitund Zeit (kleine Rituale, z. B. Ausflüge, die Frage danach wie es ihnen geht und was sie beschäftigt, Raum/Zeit/Aktivitäten in denen die Krankheit oder Behinderung keine Rolle spielt, Möglichkeit Freundschaften zu pflegen und Hobbys nachzugehen)
- Einbezug, Informationen und Wertschätzung (Information in altersgerechter Sprache über die Krankheit der Schwester oder die Behinderung des Bruders, Ermutigung Fragen zu stellen und Unsicherheiten anzusprechen, Beachtung und Wertschätzung für die Hilfe, die Unterstützung und den Verzicht des Geschwisterkindes)
- Sicherheitund Unterstützung (gut strukturierte Abläufe, z. B. mit Tages- Wochen- und Notfallplänen, Einbezug und Austausch mit Lehr- und Fachpersonen)
Welche Unterstützung ein Geschwisterkind braucht, ist sehr individuell und kann nur für und mit jedem einzelnen Kind herausgefunden werden. Seien sie stetig aufmerksam und Fragen sie nach den Bedürfnissen des Kindes.
„Es isteinfach so“ – Als Geschwisterkind die Krankheiten/Behinderung erleben
Die meisten Geschwisterkinder gehen wie selbstverständlich mit der Krankheit des Bruders oder der Behinderungder Schwester um:, „Es ist einfach so.“. Sie gehen selbstverständlich mit derSituation um und passen sich den Gegebenheiten an. Wie die Krankheit oder Behinderung vom Geschwister wahrgenommen wird, ist stark von Faktoren wie beispielsweise dem Schweregrad, dem Umgang innerhalb der Familie, aber auch dem Umgang der Aussenwelt damit abhängig und inwiefern der Alltag davon geprägtist. Die positiven Seiten, die dem Aufwachsen als Geschwisterkind zugeschrieben werden, sollten nicht vergessen werden. Geschwisterkinder gelten oftmals als sozialkompetent und reif. Sofern die Familie die Herausforderungen gut bewältigen kann, profitieren die Geschwisterkinder davon, in dem sie sich Fähigkeiten wie Empathie, Abgrenzungsfähigkeit,Selbstständigkeit, Differenziertheit, Bewältigungsstrategien im Umgang mitschwierigen Situationen usw. aneignen. Des Weiter fällt es ihnen in der Regelleichter, mit nicht normierten Lebensformen sowie unterschiedlichen Menschen umzugehen. Dennoch darf man die Augen vor den vielfältigen Herausforderungen nicht verschliessen:
- Mit den eigenen Gefühlen alleingelassen (Angst um den Bruder oder die Schwester, Scham über Krankheit oderBehinderung, Enttäuschung, Frustration, Verzicht wenn beispielsweise für anderealltägliche Dinge nicht möglich sind, Ärger, Gefühl der Zurücksetzung)
- Langedauernde und häufige Fremdbetreuung (Verunsicherung und Stress, auch wenn sie sich an den Orten wohlfühlen, dennoch fehlen die Eltern)
- FehlendeInformationen (wenn nicht ausriechend informiert, suchen die Geschwisterkinder nach Erklärungen,die zu Schuld- und/oder übermässigem Verantwortungsgefühl führen)
- ErschwerteGeschwisterbeziehung (schwer nachvollziehbares Verhalten, Beeinträchtigung der Kommunikationsmöglichkeitenund -fähigkeiten, langes oder wiederholtes Getrenntsein)
- Spagatzwischen Familie und Schule/Lehrstelle (Unterstützung verursacht zeitliche und emotionale Vereinnahmung, Information der Lehrperson)
- WenigZeit und Raum für Freundschaften und Hobbys (kommen aufgrund der Situation zu Hause zu kurz, könnennicht mit gleichaltrigen über die Krankheit/Behinderung sprechen oder nach Hause einladen)
- EigenenBedürfnisse zurückstellen (Gefühl,Eltern schonen zu müssen, unausgesprochene negative, unterdrückte Gefühle,vermeintlich gute Anpassung = Zurückstellung der eigenen Bedürfnisse, Verlernendie eigenen Bedürfnisse wahr- und ernstzunehmen, Gefahr längerfristigerpsychischer Erkrankungen)
Für Eltern
Egal wie und zu welchem Zeitpunkt die Eltern von der Krankheit oder Behinderung ihres Kindeserfahren, es ist immer ein Einschnitt der mit Trauer, Hilflosigkeit, Wut, Enttäuschung,Angst, Verwirrung verbunden ist und das gewohnte Leben auf dem Kopf stellt. Dieveränderte Lebens- und Alltagsplanung stellt viele vor eine grosseHerausforderung. Hinzukommen besorgte, neugierige, unbedarfte Nachfragen vonFamilie und bekannten oder eben auch Menschen, die sich in dieser Zeit voneinem abwenden. Andererseits ergeben sich neue Kontakte und manchmal auchUnterstützung von unerwarteter Seite.
Neben demveränderten Alltag kommen häufig noch veränderte Beziehungsverhältnisse,Überforderung und Stress, langwierige Auseinandersetzungen mit Versicherungenund finanzielle Probleme hinzu. Es ist besonders wichtig, sich rechtzeitigUnterstützung und Hilfe zu suchen, da es sonst zu ungünstigen Folgen für dieeigene körperliche und seelische Gesundheit kommen kann.
Was tun?
- Gründefür Überlastung erkennen (Beanspruchungim Alltag, Verschlechterung des Gesundheitszustands, hohe bisperfektionistische Ansprüche, ungünstiger Umgang mit negativen Gefühlen, permanenter Druck, Auswirkungen auf Appetit und Schlaf)
- Hilfesuchen und annehmen (Umfeldleistet meist gerne und konkret Hilfe: vorgekochtes Nachtessen, Einladung des Geschwisterkindes ins Freibad, Rasen mähen etc., Ergänzung mit professionellerHilfe ohne Scham oder Unsicherheit, Austausch mit anderen betroffenen Elternüber Interessenvereinigungen, Selbsthilfeorganisationen und Verbände)
- Guter Umgang mit Stress (kleine stressfreie Inseln im Alltag einbauen, körperliche und mentale Entspannungstechniken, Weiterführung von Hobbys und Lieblingsbeschäftigungen, Kontaktpflege)
- Vorbildsein (Eltern zeigen dem Geschwisterkind durch eigenes Beispiel, wie wichtig es ist, z. B. die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen, über Sorgen und Ängste zu reden und Strategien vermitteln, um mit Abwertungen Dritter umzugehen)
- Erwartungenüberprüfen (Sind dieErwartungen an das Geschwisterkind realistisch, altersgemäss und angemessen?)
- Ermutigen,stärken und schützen (Ermutigen„nein“ zu sagen, eigene Freundschaften und Hobbies pflegen, Bedürfnisse müsse nz. B. bei Ausflügen auch berücksichtigt werden)
- Elternzeitschaffen (gemeinsame Aktivitäten nur mit Geschwisterkindern, spontane kleine Unternehmungen, jedes Zusammensein erlaubt Gespräche, wie es dem Geschwisterkind geht)
Beziehen Sie Fachpersonen bei Bedarf mit ein, die im professionellen Kontext mit der Familieim Zusammenhang mit Krankheit oder Behinderung in Kontakt sind. Dies können beispielsweise Ärzt:innen, Pflegefachleute, Lehrpersonen, Betreuer:innen und Bezugspersonen der Kinder in Spitälern oder Heimen sein. Auch Fachliteratur kann helfen und den Weg zu mehr Entlastung unterstützen.
Quellen:
- Geschwisterkinder: Geschwister von Kindern mit einer Behinderung oder Krankheit (2019). Familienund Frauengesundheit, FFG-Videoproduktion.
Das Projek tGeschwisterkinder ist ein Sensibilisierungsprojekt, mit dem Ziel die psychische Gesundheit und Entwicklung von Geschwisterkindern zu fördern. Der Dokumentarfilm, eine Broschüre und weitere Informationen sowie ersteAnlaufstellen stehen unter www.geschwister-kinder.ch kostenlos zur Verfügung.