Walter Caprez ist gerne unterwegs. Seine Frau Lilian Caprez (rechts) organisiert darum viel für ihn, Betreuerin Karin Walser (links) begleitet Walter Caprez bei Unternehmungen. (Bild Entlastungsdienst Schweiz / Maurice K. Grünig)
«Ohne Lachen kann ich nicht leben», sagt Lilian Caprez. Es liegt viel Schalk und ein wenig Trotz in ihrer Stimme. Lilian Caprez weiss sich zu helfen. Sie sorgt selbst für positive Erlebnisse in ihrem Leben. Feste ausrichten und Freundschaften pflegen, das tut sie gerne. «Aber es ist natürlich ein Aufwand. Besonders im Freundeskreis muss man das Feuer stets am Laufen halten», sagt sie. Das gelte im Alter besonders – und umso mehr, wenn jemand im Alterszentrum lebt und kaum mehr sprechen kann. Wie ihr Mann Walter Caprez. «Walö», nennt sie ihn liebevoll. «Walö hat immer noch ganz viel Lebenslust», sagt Lilian. «Am liebsten würde er immer und überall hin mitkommen. Das geht leider nicht immer. Aber hin und wieder machen wir das Unmögliche möglich». Da ist er wieder, dieser Schalk in Lilians Augen. Vielleicht schimmert auch ein wenig Stolz durch und Walter Caprez sieht seine Frau mit einem kaum merklichen Lächeln an.
Walter lebt in einem Winterthurer Alterszentrum. Er kann zwar nicht mehr sprechen und auch nicht mehr gehen, aber kommunizieren kann er trotzdem. Seiner Frau Lilian gibt er viel mit seinen Augen zu verstehen. Auf manche Fragen antwortet er mit Handzeichen, in seltenen Fällen sagt er einzelne Wörter oder kurze Sätze oder er schreibt etwas auf. «Ich musste natürlich lernen, Walö zu lesen, als er seine Sprache verlor», sagt Lilian. Überhaupt musste sie viel lernen in den letzten Jahren. Sehr viel. Lilian lacht und sagt: «Nur das mit der Geduld, das ist nicht so mein Ding, gell Walö. So richtig lernt man das wohl nicht, wenn man schon immer eher ungeduldig war. Aber ein bisschen besser ist es heute schon.» Geduld war gefragt in den letzten Jahren, und auch immer wieder eine Portion Hartnäckigkeit.
Karin Walser sagt: «Lilian ist eine Kämpferin und das hilft ihr und ihrem Mann Walter sehr.» Karin ist Betreuerin beim Entlastungsdienst Schweiz – Kanton Zürich und sieht Walter regelmässig. Seit Kurzem darf auch sie zu ihm «Walö» sagen, er hat es explizit erlaubt. «Ich schätze Walter und Lilian sehr und freue mich immer, sie zu sehen.» Karin ist es als Betreuerin wichtig, dass sie immer zu denselben Menschen gehen kann, wenn sie Einsätze für den Entlastungsdienst Schweiz leistet. Dieser setzt feste Bezugspersonen ein. «Wir bauen ja eine Beziehung auf zu den Familien, die wir entlasten», sagt Karin. Das sei für die Betroffenen enorm wichtig. «Und für uns Betreuerinnen und Betreuer ist es eine Bereicherung, die Menschen kennenzulernen und ihren Alltag begleiten zu dürfen.»
«Die Begegnungen sind vielfältig und es ist schön, den betreuenden Angehörigen zu kleinen Pausen zu verhelfen.»
Karin arbeitet Teilzeit beim Sozialwerk Pfarrer Sieber am Empfang. Daneben arbeitet sie regelmässig für den Entlastungsdienst Schweiz. Und das schon seit über 18 Jahren, in denen sie unzählige Betreuungsstunden geleistet und interne Weiterbildungen besucht hat. Sie betreut Menschen jeden Alters und mit verschiedenen Einschränkungen. «Ich lerne dadurch so viele verschiedene Familien kennen», sagt Karin und kommt ins Schwärmen. Eine Familie mit einem mehrfach behinderten Mädchen und berufstätigen Eltern zählt ebenso auf die Entlastung durch Karin wie eine sechsköpfige Familie mit zwei erwachsenen Kindern mit Beeinträchtigung oder das ältere Paar, bei dem der Ehemann an Demenz erkrankt ist. «Die Begegnungen sind vielfältig und es ist schön, den betreuenden Angehörigen zu kleinen Pausen zu verhelfen», sagt Karin.
Bei Walter Caprez geht es vor allem darum, dass er regelmässig Besuche zuhause machen oder mit Lilian an Anlässen teilnehmen kann. Karin holt Walter im Alterszentrum ab und begleitet ihn nach Hause oder zum Anlass, wo sie sich auch um ihn kümmert. «So kann ich ihm die Teilnahme an seinem bisherigen Umfeld ermöglichen und Lilian kann sich auch um Andere kümmern. Das ist für beide wichtig», sagt Karin. Seit einiger Zeit kann Lilian draussen ihren Mann nicht mehr über weite Strecken im Rollstuhl schieben, denn ihre Knie und ihr Rücken machen das nicht mehr mit. Vor Kurzem musste sie ihre Knie operieren. «Walter ist ein grosser Mann», sagt Karin. «Und allein der grosse Rollstuhl wiegt ziemlich viel.»
«Ich bin halt selbst nicht mehr die Jüngste», sagt Lilian. «Erst kürzlich fragte ich Walter: Wer kümmert sich denn eigentlich einmal um mich, wenn ich Unterstützung brauche? Und er zeigte mit dem Finger auf sich selbst und nickte dazu. Das berührte mich.» Lilian ist 68 Jahre alt, Walter 73. «Kürzlich hatte Walö Geburtstag und wir haben ein richtiges Fest gemacht», erzählt Lilian. «Das war mir sehr wichtig, denn ich dachte: Wer weiss, vielleicht ist das ja sein letzter Geburtstag?»
Die ersten beunruhigende Symptome tauchten bei Walter schon vor 20 Jahren auf. «Der Arzt nahm diese aber nicht ernst», sagt Lilian. Zehn Jahre später entdeckte man einen grossen Hirntumor, der sofort operiert werden musste. «Ein Viertel seines Gehirns mussten sie Walö entfernen», erzählt Lilian. Kurz vor der Operation fuhr Walter zu seiner Tochter, die in Frankreich lebt. Er und Lilian haben drei erwachsene Kinder und drei Enkelkinder. «Er wollte sie noch einmal sehen vor der Operation», erinnert sich Lilian. «Und während Walö in Frankreich war, blieb ich zuhause und kümmerte mich um alles Administrative, setzte Vorsorgevollmachten auf und so weiter.» Nach der Operation folgten Bestrahlung, mehrere Wochen im Spital und in der Reha. Danach konnte Walter nochmal viele Jahre zuhause leben, trotz zunehmenden Einschränkungen und Unterstützungsbedarf. Er verbrachte viel Zeit mit Frau, Kindern, Enkelkindern und Freunden. «Es war keine einfache Zeit. Aber wir versuchten, weiterhin möglichst viel von dem zu machen was wir schon früher gerne machten», sagt Lilian. Zu dem Zeitpunkt war sie immer noch berufstätig. Ein attraktives Stellenangebot musste sie wegen der Betreuungsaufgabe ablehnen und auch während der Arbeitszeit gab es immer etwas für Walter zu organisieren. Später kam ihr die Spitex zu Hilfe und phasenweise musste sie eine Pflegerin anstellen.
«Wenn ich auch noch pflegebedürftig werden würde, dann bekommen die Kinder gar nichts mehr.»
Dennoch kümmerte sie sich zuhause um alles: Um ihren Mann, den Haushalt, das Essen, die Wäsche, die Administration, um die sozialen Kontakte und die gesamte Organisation der Pflege und Betreuung. «Wir schafften verschiedene Hilfsmittel an und zahlten alles aus unserer eigenen Tasche: Treppengeländer, Pflegebett, Treppenlift, Hebelift, Rampen, Rollator, später den Rollstuhl und so weiter. Immer dachte ich: Jetzt sind wir eingerichtet. Und immer wieder wurde doch eine weitere Anschaffung nötig», sagt Lilian. «Man ahnt nicht, was es kostet, wenn man pflegebedürftig ist. Wir hatten zum Beispiel enorm hohe Ausgaben für Taxifahrten. Wenn du ein bisschen am Leben teilhaben willst, brauchst du Geld.» In ihrem Fall zehren diese Ausgaben am Ersparten. «Wenn ich auch noch pflegebedürftig werden würde, dann bekommen die Kinder gar nichts mehr.»
Als Illustratorin verarbeitet Lilian viel vom Erlebten in ihren berührenden Zeichnungen. «Walö ist mein ‘Muser’», sagt Lilian und lacht. «Er kommt in vielen meiner Zeichnungen auf die eine oder andere Weise vor.» Diese Arbeit half und hilft Lilian sehr. Aber irgendwann reichte auch das nicht mehr, um genügend Kraft zu schöpfen. Lilian fühlte sich sehr müde. «Ich weinte viel», sagt sie. Sie hatte selbst nicht gemerkt, wie tief erschöpft sie war. Bis ihre Tochter Walter in einem Pflegeheim anmeldete.
2017 konnte Walter nicht mehr gehen. Ein Jahr später zog er ins Alterszentrum, in dem er zuvor regelmässig in der Tagesklinik und für Ferienaufenthalte war. «Walö und ich kannten das Zentrum schon gut. Das war sehr hilfreich.» Lilian ist es wichtig, dass Walter weiterhin möglichst abwechslungsreiche Tage hat und immer wieder Ausflüge machen kann. Neben den Festen zuhause organisiert sie verschiedene Aktivitäten wie die Schwimmtherapie für Walter oder Besuche an Veranstaltungen. Und auch um ihre eigene Zufriedenheit ist sie bemüht. Hin und wieder verreist Lilian für ein paar Tage an ihre Lieblingsorte in Europa. «Dann bin ich immer sehr froh, dass Karin sowie meine Kinder und Freunde da sind und mit Walö etwas unternehmen können», sagt sie. «So kann ich mit gutem Gefühl weg. Erst kürzlich hatte ich eine Ausstellung mit meinen Illustrationen und das hat mir so gutgetan.» Lilian arbeitet immer noch als freischaffende Illustratorin, Cartoon- und Comiczeichnerin und hat auch nicht vor, damit aufzuhören. «Das mache ich nicht nur aus finanziellen Gründen, ich mache es mit Leidenschaft.»
Lilian und Walter sind dankbar für die Unterstützung. Lilian fühlt sich entlastet, auch wenn es für sie immer noch viel zu tun gibt. «Wir haben so normal gelebt, wie es eben geht. Und das machen wir noch immer!» Lilian betont, dass «normal leben» in ihrer Situation mit einigem Aufwand verbunden ist. «Aber Liebe macht ja zum Glück vieles möglich!»
In der Schweiz fehlt es an guter Betreuung, die für alle zugänglich ist. Wer an seinem Wohnort Unterstützung braucht, steht oft vor einem Problem. Dies muss sich ändern, fordert der Entlastungsdienst Schweiz – und bietet schon heute eine konkrete Lösung. Als Non-Profit-Organisation ermöglicht er bezahlbare Betreuung für alle. Damit schliesst der Entlastungsdienst Schweiz Versorgungslücken in verschiedenen Regionen.
Damit Menschen mit Krankheit oder Beeinträchtigung, egal ob physisch, psychisch oder kognitiv, und bis ins hohe Alter zuhause leben können, brauchen sie Betreuungsangebote an ihrem Wohnort. Diese fehlen aber vielerorts oder sind mit hohen Kosten verbunden. Längst nicht alle, die Entlastung und Betreuung bräuchten, können sich diese auch leisten. Denn anders als die Pflege wird Betreuung nicht durch das Sozial- und Gesundheitssystem finanziert.
DANKE für rund 80 Millionen Stunden unbezahlte Arbeit
Insgesamt rund 80 Millionen Stunden unbezahlte Arbeit werden jährlich für die Betreuung und Pflege von nahestehenden Personen geleistet. Es ist klar: Ohne betreuende Angehörige wäre vieles undenkbar – in der Familie ebenso wie in der Gesellschaft. Darum standen am 30. Oktober, dem Tag für pflegende und betreuende Angehörige, die Menschen im Fokus, die all dies möglich machen.
Der Entlastungsdienst Schweiz und weitere Organisationen wollen damit die Anerkennung für die Leistung betreuender Angehöriger fördern.